Hardangervidda Durchquerung 2020 - authentisch, kalt und stürmisch

Vom 4. bis 15. März 2020 gab es wieder das Angebot einer autarken 10tägigen Durchquerung der Hardangervidda von Nord nach Süd. Eine Runde von 5 Männern im besten Alter tritt diese an, um alle Herausforderungen gemeinsam und auf gute Art und Weise zu bewältigen. Rund 140km und sicher 1600 Höhenmeter liegen vor uns.

Eine Durchquerung der Hardangervidda bedeutet zwangsläufig eine umfangreiche Logistik. In einem Hotel in Drammen sortieren wir die Ausrüstung, setzen anschließend zwei Autos zum Zielort in Rjukan um und fahren mit dem Bus zurück. Nach der Übernachtung im Business-Hotel in Drammen startet, nach nun schon über 2 Reisetagen, endlich die eigentliche Tour. Wir schaffen die rund 40 bis 50 Kilo schweren Pulken mit Gepäckwagen zum Bahnhof und fahren mit der Bergenbahn in rund 3h hinauf auf die Hardangervidda, um auf dem Bahnsteig von Finse final zu packen und in die große Weite zu starten.

Wir starten bei sehr kalten Bedingungen und sehr wenig Wind. Selbst bei niedrigen Temperaturen kommt man ohne Wind beim ziehen der Pulka stark ins schwitzen. Kühlenden Wind sollte es in den Folgetagen noch genügend geben, aber dazu später....

Die ersten Nächte starten gleich im zweistelligen Minusbereich. Wir haben dieses Mal keine elektronische Tourstatisik, nur ein einfaches Thermometer. In insgesamt drei Nächten lagen die Werte irgendwo zwischen -25° und -30° C, was auch mit warmem Schlafsack anspruchsvolle Schlafbedingungen darstellt.

Am zweiten Tag treffen wir wie angedacht auf Kim und Matthias, denen ich in vergangenen Jahren ein bisschen Starthilfe für eigenständige Wintertouren geben durfte, und die nun selbständig unterwegs sind. Gleichzeitig sind zwei weitere Teilnehmer vergangener Jahre weiter südlich unterwegs. Es freut mich, dass ich zu dieser Selbständigkeit einen Beitrag leisten konnte - das ist die Idee dieses Angebots.

An Tag drei überqueren wir wieder die eindrückliche Landstraße durch die weiße Weite und tauchen tiefer in wildes Gebiet ein. Am Abend dieses Tages beginnt ein prognostiziertes 4-Tage Schlechtwetterfenster mit Wind in Stumstärke und viel Neuschnee. Mehrmals rufe ich über den schwächer werdenden Mobilfunkempfang und über das inReach die Wettervorhersage ab - und jedes Mal stellt sie sich relativ drastisch anders dar. Das sorgt für eine relative Planungsunsicherheit, vor allem, wo für die kommenden Tage ein sehr weitläufiges und schwer zu navigierendes Gebiet vor uns liegt. Bei Whiteout und Sturm ist das nicht verantwortungsvoll zu bewältigen - und Rjukan noch weit weg.

Tourzitat: "Zwischen hart und dumm ist ein schmaler Grat"

Tag vier startet, wieder jeder Prognose, anstatt mit Whiteout mit einem Mix aus Sonne und Wolken und anschwellendem Wind. Ich hatte mich schon damit abgefunden, einen Umweg zu gehen und auf markierten Winterwegen zu bleiben. Das ist zwar anstrengend, aber wenigstens sicher. Nun präsentiert sich der Tag aber mit brauchbarer Sicht, aber schlechter Prognose. Ich lasse mich auf das Lotteriespiel ein, vom Winterweg abzuzweigen und die kürzere Route durch schwer zu navigierendes Gebiet zu wählen. Abgesehen vom Wind, der auf 70 bis 80km/h zulegt und uns frontal ins Gesicht bläst, geht das Spiel bis zum frühen Nachmittag zu unseren Gunsten aus, dann zieht es zu und die Sicht liegt bei Null. Ich bin selbst auch schon angeschlagen und das Team beansprucht, aber wir schlagen uns noch knapp 2h mit Kompass und GPS ohne jede Sicht bis in den Bereich einer Passhöhe durch, die ein gutes Tagesziel darstellt. An der letzten Steigung deren Länge nicht absehbar ist, geben wir für heute auf, es war ein langer Tag. Nachts reißt der Himmel wieder auf und eröffnet den Blick auf die nahe Passhöhe.

An Tag 5 durchqueren wir wiederum ein riesiges Gebiet mit wenig optischen Anhaltspunkten, bei eisigem Wind, aber immerhin mit Sicht. Nach 20 Minuten Mittgspause bin ich so durchgefroren und spüre meine Hände nicht mehr, dass ich weitere 20 Minuten mit hohem Tempo laufen muss, bis ich wieder durchblutet und auf Temperatur bin - eine anspruchsvolle Tour.

Tourzitat: "Es gibt zwei Arten von Menschen die frieren, Arme und Dumme"

Das neue Gruppenzelt von Helsport, das "Svalbard 6 Camp" mit doppeltem Gestänge, schlägt sich super und tut einen perfekten Dienst. Das erste Zelt in nun 20 Jahren Wintertouren und diversen Zeltexperimenten, das sich auch bei 80km/h und Windböen noch völlig unbeeindruckt zeigt, flatterfrei steht und dabei ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit austrahlt. Danke Helsport!

In der Nacht auf Tag 6 beginnt, ungefähr wie prognostiziert, ein weiterer Sturm. Wir bauen bei hohen Windgeschwindigkeiten im horizontalem Schneetreiben die Zelte ab - was das Team hervorragend bewältigt. Bei wiederum absoluter Null-Sicht im Whiteout navigieren wir 2km bis zur Auffanglinie des Winterwegs und folgen ihm bis zur Lagaros Hütte, die wir anhand der miserablen Prognose als Tagesziel angepeilt haben. Dankbar tauchen wir ein. Die anderen Wege sind noch nicht markiert und "unser" Winterweg endet hier. So sind wir die ersten seit 3 Wochen und die Hütte ist eisig. Mit uns kommen zufällig zwei Dänen an, die ruckzuck alle drei Öfen angefeuert haben und uns damit bald schon ein kuschliges Heim bescheren. 

Die bisher auch miserable Wetterprognose für Tag 7. dreht sich erfreulicherweise während unseres Aufenthaltes auf der Hütte und wir beschließen, unseren Weg fortzusetzen und keine andere, umständlichere Methode zu finden, die Tour sicher beenden zu können. Ich programmiere die Wegpunkte von Tag 7 in Ruhe ins GPS und traue mir zu, sie auch bei Nullsicht sicher zu finden - wenngleich ich gerne auf einen derart anstrengendenTag verzichten kann. Nach unserem Start bei einigermaßen Sicht macht es wieder zu und der Wind dreht auf. Die kurzzeitig aufkeimenden Gedanken (unausgesprochen, weil es so extrem pfeift, dass stehenbleiben sofortiges massives Frieren bedeutet und verständigen sowieso sehr schwierig ist) wieder zur Hütte umzukehren, werden dann nach rund 1,5h endgültig eingestellt, als wie versprochen die Sonne durch das Schneetreiben spitzelt und immer mehr an Himmel gewinnt.

Bis zu einer kleinen Mittagspause ist der Wind sogar kurzzeitig bis auf zeitweilige Windstille heruntergefahren - eine Wohltat.

Tourzitat: " Wenn es nicht mehr geht, ist Halbzeit"

Sagt Daniel, dessen Fersen inzwischen nur noch aus rohem Fleisch bestehen, Respekt! Beruhigenderweise erklärt unser Expeditionsarzt: "schlimmer kann es auch nicht mehr werden, außer es entzündet sich." Na dann, desinfizieren, verbinden - und weiter geht es...

Tag 8 bis 10 lassen die Durchquerung würdevoll bei recht normalen Winterwetter ausklingen. Das gröbste Wetter ist überstanden, die schwierigsten Orientierungsetappen gemeistert. Der eisige Nordwind schiebt uns nun von Hinten ein wenig an und nach einer sehr kalten letzten Nacht bei knapp -30°C in der Nachbarschaft  des ersten Birkenwäldchens seit dem Start, stoßen wir auf den Winterweg, der uns hinab zur Rjukan Fjellstue leitet.

Über das aufkommende Handynetz erfahren wir die ersten heftigen Corona-Botschaften und eine Norwegerin, die wir auf dem Winterweg treffen fasst die Entwicklung in der Zeit, die wir im Fjäll verbracht haben so zusammen: "The world has changed". So sind die letzten Stunden in den norwegischen Bergen ein Gefühlsmischmasch von "gut, diese heftige Tour gemeistert zu haben und zurück zu sein" und "eigentlich, sollte man die Berge gerade nicht verlassen".

An der Fjellstue erfahren wir, dass alle norwegischen Hotels geschlossen wurden. Der Wirt würde für uns, nach sehr kritischer Frage, ob sich einer von uns krank fühlt, aber eine Ausnahme machen. Begründung ist, dass wir sozusagen 10 Tage in Quarantäne in den Bergen waren und "eigentlich" nichts haben können. So überwiegt über den Stolz und Freude über die geschaffte Tour letztlich erst mal ein mulmiges Gefühl in Bezug auf unsere Rückreise, geschlossene Grenzen und was uns in dieser veränderten Welt erwartet. Vielleicht war das die letzte unbeschwerte Wildnistour für lange Zeit. 

Danke an das Team bodenständiger Männer (Daniel, Holger, Björn und Mario) für das gute Miteinander! Und Danke an die wilde weiße Natur, die uns einmal mehr etwas über unseren Platz in der Welt, über unsere Stärken und Schwächen und über Demut und Dankbarkeit gelehrt hat.

Stefan Koch

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